Themenschwerpunkt Racial Profiling – ein illustratives Beispiel für das Auftreten von struktureller Diskriminierung in der Schweiz

Zürich, 01. April 2018

von Andi Geu ℹ 

Sékou A. steigt zusammen mit Hunderten von anderen Pendlerinnen und Pendlern aus dem Zug. Es ist früher Morgen an einem grossen Bahnhof in der Schweiz. Menschen strömen routiniert in Richtung Ausgang oder zu den Rolltreppen, die zu den Anschlusszügen führen. Herr A. arbeitet seit mehreren Monaten in der grossen Stadt, er trägt einen Rucksack und einen Kaffeebecher mit sich und arbeitet sich langsam durch die Menge. In einigen Metern Entfernung sieht er eine Patrouille der lokalen Stadtpolizei, die – unterstützt von einem Polizeihund – die Passantinnen und Passanten mustert. Wird es jetzt gerade wieder passieren? Sékou A. ist etwas knapp dran, der Zug war verspätet. Doch zielstrebig wird er als einzige Person aus der Menge angesprochen: «Können Sie sich ausweisen, bitte?»

In den letzten Monaten wird in der Schweizer Öffentlichkeit zunehmend über das Phänomen Racial Profiling diskutiert. Dies ist zum einen wohl der grösseren medialen Aufmerksamkeit für Polizeigewalt in den USA und der #BlackLivesMatter-Bewegung geschuldet, die auch hierzulande für Schlagzeilen sorgen. Zum anderen kam es rund um einige lokale Gerichtsverfahren auch in der Schweiz zu Berichterstattung und zu zunehmender Forschung zu diesem Phänomen. Dabei gelang es sowohl der Allianz gegen Racial Profiling (www.stop-racial-profiling.ch), einem Zusammenschluss von Personen und Organisationen, die sich gegen strukturellen Rassismus einsetzen, wie auch verschiedenen Dialogprojekten von Institutionen der Zivilgesellschaft, das Thema in die Öffentlichkeit zu bringen.

 

Zur Terminologie

Der Begriff Racial Profiling bezeichnet alle Formen von diskriminierenden Kontrollen gegenüber Personengruppen, welche von Polizisten und Polizistinnen als ethnisch oder religiös «anders» wahrgenommen werden.

Der Ausdruck Racial Profiling stammt aus den USA, wo vor allem AfroamerikanerInnen und Personen lateinamerikanischer Abstammung überdurchschnittlich oft von polizeilichen Personenkontrollen betroffen sind. Es wird in diesem Zusammenhang auch von Ethnic Profiling gesprochen, weil die Hautfarbe nicht den einzigen Grund für missbräuchliche Personenkontrollen darstellt. Im Schweizer Kontext sind neben dunkelhäutigen Menschen auch Personen aus der Balkanregion (insbesondere Roma) sowie aus arabischen Ländern und Musliminnen und Muslime von ungerechtfertigten polizeilichen Kontrollen betroffen.1

Profiling meint ein zielgerichtetes Kategorisieren von Menschen; Menschen werden sozialen Gruppenkategorien, wie zum Beispiel Geschlecht, Alter, soziale Schicht, Ethnie, soziale Rolle, sexuelle Orientierung etc. zugeordnet. Solche Kategorisierungen finden spontan bei jeder zwischenmenschlichen Wahrnehmung statt. In manchen Zusammenhängen werden soziale Kategorisierungen als Methode verwendet, um bestimmte Ziele zu erreichen. So wird der Fussballscout anhand bestimmter Suchkategorien (Verteidiger, nicht älter als 21, nicht teurer als Fr. 100‘000 etc.) auf die Spielersuche gehen. Oder die Marketingfachfrau versucht, das Zielpublikum ihres Produkts einzugrenzen, indem sie gewisse Eigenschaften des Produkts hervorhebt und diesen Eigenschaften bestimmte soziale Kategorien zuordnet, welche dann die Zielgruppe definieren. Beides ist Profiling im Sinne des zielgerichteten Kategorisierens von Menschen.

Auch für die Polizei ist Profiling eine wichtige Arbeitsmethode, vor allem bei den Ermittlungen zu einem Delikt. Da wird aufgrund von Zeugenaussagen, von Tatortspuren und Hypothesen zum Tathergang ein Täterprofil erstellt, welches unter anderem auch soziale Kategorisierungen enthalten. Wenn danach Menschen, die diesem Profil entsprechen, auf den Radar der Polizei geraten, so sind sie verdächtig und werden überprüft. Solange diese Profile auf objektiven Fakten beruhen, die statistisch nachweisbar ausgeprägte Hinweise für kriminelle Aktivitäten sind, ist an diesem kriminalistischen Profiling nichts auszusetzen.

 

Problematisches Profiling

Sékou A. wird nicht zum ersten Mal von der Polizei aufgefordert, sich auszuweisen. Manchmal passiert es jeden Monat, manchmal sogar jede Woche. Er hat schon verschiedene Reaktionen ausprobiert: meistens ist er höflich und zeigt seinen Schweizer Pass, den er immer dabeihat, wenn er das Haus verlässt. Er macht sich das Leben sonst nur selbst schwer. Doch heute ärgert sich Sékou A., dass er schon wieder kontrolliert wird und alle anderen Pendlerinnen und Pendler unbehelligt ihres Weges gehen können. Heute fragt er: «Gibt es einen konkreten Verdacht, der dazu führt, dass Sie mich kontrollieren?»

Ethnisches Profiling wird dann zum Problem, wenn die Methode auf diskriminierende Weise angewandt wird. In der Praxis wird dieser Vorwurf vor allem in Zusammenhang mit Personenkontrollen durch die Polizei und die Grenzschutzbehörden erhoben, und zwar dann, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind:

  1. das Verhalten der kontrollierten Person gibt keinen Anlass für die Personenkontrolle;
  2. die kontrollierte Person wird aufgrund ihres Erscheinungsbildes von den Sicherheitsbeamten als ethnisch oder religiös «fremdartig» wahrgenommen.

In einem solchen Fall ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass die gruppenbezogene Zuschreibung das hauptsächliche Motiv für die Überprüfung der Person ist. Dies ist als sachlich ungerechtfertigte Ungleichbehandlung, d.h. als verbotene Diskriminierung zu bewerten.

 

Sachlich begründetes Profiling

Wenn die ethnische oder religiöse Zuschreibung hingegen ein sachlich begründetes Element zum Beispiel im Steckbrief einer zur Fahndung ausgeschriebenen Person ist, handelt es sich zwar auch um ein Profiling, aber ohne diskriminierenden Charakter, weil es sachlich eben begründet ist.

In der Schweiz hat die Polizei unter anderem den Auftrag, ausländerrechtliche Massnahmen durchzusetzen. Das macht es in der Realität oft schwierig, den Nachweis zu erbringen, ob es sich um ein ungerechtfertigtes, also rassistisches Profiling handelt oder nicht. Eine Kontrolle kann zum Beispiel mit Verweis auf das Ausländerrecht begründet werden, doch das subjektive Gefühl der Ausgrenzung und der ungerechtfertigten Kontrolle bleibt bei den Betroffenen trotzdem bestehen – insbesondere, wenn man sich mit hellhäutigen Bekannten darüber unterhält, wie oft sie denn von der Polizei kontrolliert werden.

 

Strukturelle Diskriminierung

Wenn mit der Polizei das Gespräch über rassistisches Profiling gesucht wird, verweist diese oft darauf, dass es sich um äusserst seltene Einzelfälle handle, die intern angegangen würden. Oft wird darauf verwiesen, dass es sich bei diesen Fällen um Polizistinnen oder Polizisten handle, die neu im Dienst seien und sich noch nicht auf ihre Erfahrungswerte verlassen könnten. Doch das widerspricht den Schilderungen vieler von Racial Profiling Betroffenen, die nicht nur von jungen Beamtinnen und Beamten kontrolliert werden und sich doch diskriminiert fühlen.

Vielmehr scheint das rassistische Profiling ein Phänomen zu sein, an dem sich exemplarisch aufzeichnen lässt, wie strukturelle Diskriminierung funktioniert. Zu struktureller Diskriminierung kommt es vorwiegend dort, wo diskriminierende Handlungen nicht auf böswillige Absichten von einzelnen Individuen zurückzuführen sind, sich aber überproportional oft einstellen. Gründe, dass es zu diesen Verzerrungen kommt, können zum Beispiel historisch gewachsene Praktiken sein, Vorurteile oder Privilegien. In der Regel ist es wohl eine Kombination verschiedener Faktoren, die dazu führt, dass beispielsweise Kinder mit Migrationshintergrund überproportional oft in die Realschule eingestuft werden, Frauen überproportional oft in Branchen mit prekären Arbeitsbedingungen und tiefen Löhnen arbeiten – oder Dunkelhäutige überproportional oft von der Polizei kontrolliert werden.

Doch die Wirkung auf die Betroffenen ist nichtsdestotrotz schwerwiegend. Genau in solchen Fällen sind zur Veränderung des strukturell diskriminierenden Systems neue Entscheidungen, Richtlinien und Prozesse vonnöten. Die Behebung von strukturellen Diskriminierungen muss von der Institution als Ganzes angegangen werden, ist insofern also ein Führungsthema einer jeden Institution. Sie kann von einzelnen Mitarbeitenden – und seien sie noch so gutwillig – ohne Unterstützung der Leitung nur beschränkt verändert werden. Allerdings braucht es in den meisten Institutionen engagierten, internen Support für ein Thema, um die Führungsebene zum Umdenken zu bewegen. Mögliche Ansätze, wie Polizeicorps sich des Phänomens des rassistischen Profilings auf dieser strukturellen Ebene annehmen könnten, gibt es zahlreiche: in der Rekrutierung, der Aus- und Weiterbildung sowie der Qualitätssicherung in Bezug auf Personenkontrollen, beim Dialog zwischen Polizei und häufig kontrollierten Personengruppen, bei der Handhabung von Beschwerden von kontrollierten Personen oder bei der Dokumentation effektiv durchgeführter Kontrollen, dem politisch oft geforderten Ticketsystem2.

 

Fazit

Das ruhige und höfliche Auftreten von Sékou A. zeigte Wirkung. Die Polizeipatrouille reflektierte ihr Verhalten, verzichtete darauf, den Ausweis von Herrn A. zu kontrollieren und entschuldigte sich bei ihm.*

Damit es allerdings zu weniger solchen Fällen von rassistischem Profiling (und anderen Formen der strukturellen Diskriminierung) und dafür zu mehr Reaktionen wie im Beispiel oben kommen könnte, braucht es nicht «nettere» Polizistinnen und Polizisten. Erst wenn die Polizeien institutionell und auf der Führungsebene Verantwortung übernehmen und die Entscheidung treffen, dass es sich hierbei effektiv um ein strukturelles Problem handelt, das angegangen werden muss, wird diese Reaktion üblich werden und werden sachlich nicht begründbare ethnische Personenkontrollen verschwinden.

*Die Situation von Sékou A. wurde zu Illustrationszwecken erfunden.

 

ℹ Andi Geu ist Ko-Geschäftsleiter von NCBI Schweiz, dem National Coalition Building Institute Schweiz. Er studierte an der Universität Bern Philosophie, Soziologie und Religionswissenschaften und arbeitet seit 2003 hauptberuflich für NCBI.

 

 


Literaturhinweise

[1]  Weiterführende Hintergrundinformationen zum Phänomen Racial Profiling finden Sie im Themendossier von humanrights.ch (siehe www.humanrights.ch/de/menschenrechte-themen/rassismus/rassistisches-profiling/) sowie in einer Dokumentation der Allianz gegen Racial Profiling (zugänglich via www.stop-racial-profiling.ch/wp-content/uploads/2016/10/Dokumentation_def.pdf).

[2] Die Idee eines Quittungssystems bei polizeilichen Kontrollen sieht vor, dass die kantonalen und städtischen Polizeikorps bei durchgeführten Kontrollen der kontrollierten Person eine Quittung ausstellen, auf der Zweck, Ort, Zeit und Grund einer Polizeikontrolle schriftlich festgehalten werden. Dies soll zu einem sorgfältigeren und reflektierten Umgang mit Kontrollen führen – und es gibt regelmässig kontrollierten Personen einen Nachweis in die Hand, dass sie oft von Kontrollen betroffen sind.