Einschätzung: Rassismus in der Schweiz 2016

Zürich, 01. Februar 2016

Die Schweiz – ein Paradies für Neonazis?

 

Die andauernden Migrationsbewegungen nach Europa und Terrorbedrohungen beeinflussen weiterhin die öffentliche Debatte in der Schweiz. 2016 dominierten Stichworte wie «Überfremdungspolitik», «Flüchtlinge/Asylsuchende», «Muslime/Islamisten», «Burka/Burkaverbot» sowie «Neonazis» und «Rechtsradikalismus» die Debatte in den Medien.

Seit 40 Jahren gibt das Sorgenbarometer der Credit Suisse (CS) Auskunft über die Stimmungslage der Schweiz. 2016 war das Jubiläumsjahr des Barometers und es wurden insgesamt 1010 Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger zu ihrer Befindlichkeit befragt. «Die Hauptsorgen erscheinen weniger bedrohlich als auch schon, die Schweizerinnen und Schweizer sind optimistisch», schreibt die CS. Nach wie vor seien es aber die Themen Arbeitslosigkeit und Jugendarbeitslosigkeit sowie Ausländer und Flüchtlinge, welche der Bevölkerung am meisten Sorgen bereiten würden.

Die Angst vor dem Fremden bleibt also bestehen und fremdenfeindliche Ressentiments sind weiterhin latent vorhanden, wie auch im letzten Jahr unzählige Kommentare und Posts auf sozialen Medien und zu Online-Zeitungsartikeln zeigten. Trigger waren dabei Terrorattacken (beispielsweise in Nizza und Berlin) und die anhaltende Flüchtlingsproblematik in Europa. Auch die Debatte um die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative sorgte für viel Zünd- und Gesprächsstoff.

Die Chronologie der rassistischen Vorfälle, welche die GRA zusammen mit der Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz (GMS) herausgibt, wies 2016 gleich viele Vorfälle auf wie 2015.

Es muss darauf hingewiesen werden, dass diese Zahl insofern repräsentativ ist, als die Chronologie Vorfälle erfasst, die in den Medien publiziert wurden. Es handelt sich also um ein Medien-Monitoring, mit welchem sich zwar die generelle Stimmung in der Schweiz erfassen lässt, welches aber keinen Anspruch auf statistische Vollständigkeit hat.

Die Dunkelziffer in Zusammenhang mit rassistischen Vorfällen war denn auch 2016 hoch. GRA und GMS erhielten beispielsweise fast täglich Nachrichten von Opfern rassistischer Vorfälle oder Hinweise auf fremdenfeindliche Verstösse. Diese betrafen häufig das Internet und/oder soziale Medien und wurden deshalb nicht in der Chronologie erfasst.

Vorfälle, welche in den Medien keine Beachtung finden, werden auch durch das «Beratungsnetz für Rassismusopfer» – koordiniert von humanrights.ch/MERS und der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR) – jährlich in einem Bericht zu rassistischen Vorfällen aus der Beratungspraxis publiziert. In diesen Berichten werden Fallgeschichten ausgewertet, welche von den angeschlossenen Beratungsstellen in einer gemeinsamen Datenbank anonymisiert erfasst wurden. Zudem publiziert die EKR jeweils im Frühsommer ihren Jahresbericht, in dem internationale und nationale Urteile und Entscheide zu rassistischer Diskriminierung in den verschiedenen Lebensbereichen dargelegt werden.

 

 

Rechtsradikalismus

Im Oktober 2016 trafen sich über 5000 Neonazis aus ganz Europa in Unterwasser im Kanton St. Gallen zu einem Konzert. Es folgte ein Aufschrei der Empörung, die rechtsextreme Szene in der Schweiz steht seither wieder vermehrt im Fokus der Berichterstattung. Die Partei National Orientierter Schweiz, kurz PNOS, versucht zudem, von der aktuellen Stimmung zu profitieren: In den letzten Monaten organisierte sie gemeinsam mit in- und ausländischen Vertretern der Neonazi-Szene weitere Treffen und versuchte dadurch, die Schweiz als «Paradies für Neonazis» darzustellen und zu missbrauchen. Sie lieferte sich dabei immer wieder ein Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei.

Nach dem Neonazi-Konzert in Unterwasser reichte die GRA Strafanzeige bei der zuständigen Staatsanwaltschaft in St. Gallen ein. Es sollte abgeklärt werden, ob es an diesem Konzert, etwa durch die Veranstalter oder die auftretenden Bands, zu Verstössen gegen Art. 261bis StGB gekommen ist.

Auch sollte eine Debatte ausgelöst und die Schweizer Behörden für das Thema Rechtsradikalismus sensibilisiert werden. Die involvierten politischen Entscheidungsträger (z.B. kantonale Sicherheits- und Justizdepartemente) sollen bereits im Vorfeld solcher Veranstaltungen die eingereichten Gesuche kritisch prüfen und mit den zuständigen kantonalen und eidgenössischen Behörden zusammenarbeiten, um von der Art und dem Ausmass solcher Anlässe künftig nicht wieder «völlig überrumpelt» zu werden – wie etwa im Nachgang zu Unterwasser von den St. Galler Behörden zu vernehmen war.

Aufgrund der Aktualität publizieren die GRA/GMS in diesem Jahr einen Fokusartikel zum Thema «Rechtsradikalismus in der Schweiz»: Fabian Eberhard, Journalist bei der «SonntagsZeitung» und Extremismus-Experte, beleuchtet darin die rechtsradikale Szene in der Schweiz, wie sie sich zurzeit präsentiert. (Fokusbericht: Rechtsextremismus in der Schweiz)

 

Antisemitismus

Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund SIG, der antisemitische Vorfälle sammelt, verzeichnete 2016 in der Deutschschweiz 24 Zwischenfälle, wobei antisemitische Äusserungen im Internet nicht miteingeschlossen wurden. Gravierend waren dabei eine Morddrohung, eine versuchte Erpressung sowie zwei Tätlichkeiten. Der ganze Bericht befindet sich unter www.antisemitismus.ch.

 

Islamophobie

Die Medien berichteten auch im letzten Jahr über diverse Zwischenfälle, bei denen Muslime in der Schweiz diskriminiert und beschimpft wurden und über antimuslimische Hetze oder Hetze gegenüber Asylsuchenden und Flüchtlingen im Allgemeinen.

Auch die Vereinigung der islamischen Organisationen in Zürich (VIOZ) berichtet, dass die Anzahl anti-muslimischer Zwischenfälle 2016 erneut zugenommen habe; dies, nachdem bereits 2015 die Zahl gemeldeter Zwischenfälle gegenüber dem Vorjahr gestiegen war.

Die VIOZ berichtet zudem, dass Muslime in der Schweiz besonders in folgenden Bereichen Diskriminierung und Rassismus spürten: in der Öffentlichkeit (z. B. Gewalt gegen Kopftuch tragende Frauen), bei der Wohnungssuche (in einem publizierten Fall wurde bereits im Inserat geschrieben, dass «Muslime unerwünscht» seien), bei der Stellensuche oder bei der Suche nach Moscheeräumlichkeiten. Auch das Vorenthalten von Grabfeldern wird genannt. (Die GMS hat zu diesem Thema 2014 eine Informationsbroschüre verfasst mit Fakten, Argumenten und Ansichten sowie den rechtlichen Grundlagen: http://gms-minderheiten.ch/projekte/muslimische-grabfelder/broschuere.)

Zudem erhalten islamische Organisationen in der Schweiz fast täglich Droh- und Hassbriefe und haben deshalb letztes Jahr diverse Anzeigen eingereicht.

Muslimische Organisationen beschreiben die Stimmung gegenüber Muslimen hierzulande als noch aggressiver und ablehnender als in den Jahren zuvor.

Die Debatte um ein landesweites Burka-Verbot ging auch 2016 weiter, und es werden weiterhin Unterschriften für eine entsprechende Initiative gesammelt. Das Tessin hat als erster Kanton am 1. Juli vergangenen Jahres das Verhüllen des Gesichts auf öffentlichem Grund verboten. Die Burka-Plakate der SVP, die zuletzt in Zusammenhang mit der Abstimmung über eine erleichterte Einbürgerung der 3. Generation aufgetaucht sind, schüren weiter die Ängste und Vorurteile der Bevölkerung.

 

Dschihadismus

Wie der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) schreibt, hat sich «die Bedrohung durch den dschihadistischen Terrorismus in den vergangenen Monaten weiter verschärft. Dies hängt hauptsächlich damit zusammen, dass der ‹Islamische Staat› Personen nach Europa schickt, die mit der Planung und Ausführung von terroristischen Anschlägen beauftragt wurden.» Gleichzeitig stieg die Zahl der Einreisesperren wegen Dschihadismus. Das Bundesamt für Polizei (Fedpol) verfügte 2016 von Anfang Januar bis Ende Oktober 26 Sperren gegen Dschihadisten, wie Medien berichteten. Im Vorjahr waren es demnach 17 und in den drei Jahren davor insgesamt 13 Einreisesperren gewesen. Das Fedpol verhängt die Sperren jeweils in Absprache mit dem NDB «zur Wahrung der inneren oder äusseren Sicherheit».

Wie Experten ausserdem schreiben, wurde in den letzten Jahren auch innerhalb der Schweiz ein Anstieg von Leuten beobachtet, die sich radikalisieren. Zuletzt geriet die Winterthurer AN-Nur-Moschee diesbezüglich in die Schlagzeilen.

Der NDB schreibt in seinem Lagebericht 2016, dass «radikalisierte gewaltbereite Personen auch in der Schweiz zur Tat schreiten oder die Schweiz missbrauchen könnten, um von hier aus dschihadistisch motivierte Anschläge in anderen Staaten vorzubereiten».

 

Antiziganismus

2016 weist die Chronologie 4 Einträge auf, die Fahrende in der Schweiz betreffen. In einem Fall wurden Schweizer Fahrende von Gemeindevertretern von einem Standplatz in Waldkirch (SG) weggejagt, obwohl sie einen gültigen Vertrag mit dem dortigen Landwirt hatten und die entsprechenden Auflagen einhielten. In einem anderen Fall hat die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) Ende Juni Strafanzeige gegen einen Lysser SVP-Gemeinderat eingereicht, der sich verächtlich über Jenische, Sinti und Roma geäussert hatte. Weiter prüfte die GfbV auch gegen einen grünliberalen Bieler Stadtrat, der behauptete, dass Roma «kein normales Volk» seien, rechtliche Schritte.

2016 gab es in den Medien zahlreiche Berichte über fehlende Standplätze für Jenische und Sinti. Die Kantone tun sich weiterhin schwer damit, genügend Standplätze zur Verfügung zu stellen, obwohl sie gesetzlich dazu verpflichtet wären. Immer wieder lehnen Stimmbürger vorgeschlagene Orte mit diversen Argumenten ab.

Es gab allerdings auch eine positive Nachricht zu verzeichnen: Erstmals hat der Bundesrat Jenische, Sinti und Roma offiziell als Teil der schweizerischen kulturellen Vielfalt anerkannt. Zudem hat er Ende Dezember den Entwurf des Aktionsplans «zur Verbesserung der Bedingungen für die fahrende Lebensweise und zur Förderung der Kultur von Jenischen, Sinti und Roma» veröffentlicht. Damit sollen insbesondere Verbesserungsvorschläge in Zusammenhang mit Standplätzen für Fahrende, Bildung und Kultur gemacht werden.

 

Racial Profiling

2016 war in den Medien vermehrt von «Racial Profiling» die Rede. Der Begriff stammt aus den USA und bezeichnet ein auf äusserlichen Merkmalen und Stereotypen basierendes Agieren von Behörden, oftmals von der Polizei. Anhand von Kriterien wie ethnischer Zugehörigkeit, Hautfarbe oder Religion und nicht aufgrund konkreter Verdachtsmomente wird eine Person als verdächtig eingeschätzt, festgehalten oder untersucht.

Das Markt- und Meinungsforschungsinstitut Demoscope führte 2016 im Auftrag der Stadtpolizei Zürich eine repräsentative Bevölkerungsumfrage zum Thema subjektives Sicherheitsgefühl der Stadtbevölkerung durch. Trotz der grundsätzlich positiven Stimmen der Bevölkerung gegenüber der Stadtpolizei gab dennoch rund ein Drittel der Befragten an, die Stadtpolizei behandle nicht alle Menschen gleich. Das gelte, so die Befragten, insbesondere für dunkelhäutige oder ausländisch aussehende Menschen.

Die Chronologie verzeichnete 2016 allerdings keinen Fall von «Racial Profiling», da hier die Dunkelziffer sehr hoch sein dürfte und sich Betroffene nicht an die Medien wenden. Ein Fall, der 2016 an die Medien kam, liegt bereits sieben Jahre zurück, wurde aber erst Ende 2016 vor Gericht verhandelt. Ein dunkelhäutiger Mann verweigerte sich in Zürich in einem Tram einer Ausweiskontrolle. Daraufhin artete die Situation mit Schlägen seitens der Polizisten aus, wie die Staatsanwaltschaft schrieb. Der Mann erstattete damals Anzeige. Die Zürcher Staatsanwaltschaft ermittelte, stellte das Verfahren aber zweimal ein. Die Polizisten hätten übereinstimmend rapportiert, die Aggressionen seien vom Kläger ausgegangen. Die eingesetzten Mittel seien angemessen gewesen. Der Mann zog den Fall bis vor Bundesgericht. Dieses entschied, es sei nicht sicher, ob die Polizisten unschuldig seien, weshalb der Fall im November 2016 vor dem Zürcher Bezirksgericht verhandelt wurde.

 

Rassismusprävention an Schulen

Wissenschaftliche Untersuchungen weisen darauf hin, dass Rassismusprävention bei Kindern eine erfolgreiche Massnahme darstellt, um Vorurteile, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus langfristig zu bekämpfen. Die GRA hat, zusammen mit dem Marie Meierhofer Institut für das Kind, bereits vor ein paar Jahren ein Projekt zur Rassismusprävention im Vorschulalter initiiert. Konkret wird in vorschulischen Einrichtungen eine sogenannte «Vielfaltbox» zum Einsatz kommen, mit welcher schon bei kleinen Kindern Toleranz gefördert werden soll (http://gra.ch/bildung/fruehkindliche-bildung).

Zudem hat die GRA das sogenannte E-Learning Tool entwickelt: Mit diesem interaktiven Online-Kurs wird auf moderne und für Jugendliche interessante Art Wissen über historisch belastete und vermeintlich belastete Begriffe vermittelt (http://gra.ch/bildung/e-learning-tool). Das E-Learning Tool basiert auf dem «GRA-Glossar historisch belasteter Begriffe», welches seit 2010 auf der GRA-Website aufgeschaltet ist und nach aktuellem Geschehen mit neuen Begriffen ergänzt wird (http://gra.ch/bildung/gra-glossar/begriffe). Hauptzielgruppe des E-Learning Tools sind Lernende der Sek-II-Stufe (14–16 Jahre).

Im Juni 2016 publizierte die EKR ihr Bulletin «Tangram» (Nr. 37) zum Thema Rassismusprävention in den Schweizer Schulen. Die EKR machte eine Bestandsaufnahme der antirassistischen Pädagogik in der Schweiz und stellte dabei nebst Erfreulichem auch fest, dass es «noch viel zu tun gibt und dass es für die Bekämpfung des Rassismus einen starken Willen braucht, in der Politik, in den Institutionen und in der Schule».

Gemäss «Tangram» weist die Schweiz im Vergleich zu den Ländern der Europäischen Union bei der Rassismusprävention an Schulen einen Rückstand auf. Wie mehrere Autoren im EKR-Bulletin festhalten, tut sich die Schweiz schwer damit, die antirassistische Erziehung nachhaltig und offiziell in den Lehrplänen der obligatorischen Schule zu verankern.

Ausserdem ermöglichen die Ausbildungsgänge der Lehrpersonen zwar die Thematisierung von Rassismus, dies aber nur im grösseren Kontext der kulturellen Vielfalt und Toleranz und ohne direkte Konfrontation oder kritische Auseinandersetzung mit den Aspekten der Ablehnung und der rassistischen Verhaltensweisen. Bei der Ausbildung der künftigen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter hebt sich die Hochschule Luzern ab. Sie bietet ab Herbst 2016 das Modul «Ausgrenzung, Rassismus und Rechtsextremismus» in ihrem Studienplan an.

Städte und Gemeinden müssen an ihren Schulen die Aufnahme einer steigenden Zahl von Kindern mit Migrationshintergrund bewältigen. Rassismusbekämpfung in den Schulen ist daher heute nötiger denn je. Die GRA ist deshalb weiterhin darum bemüht, Projekte zu unterstützen, welche die Rassismusprävention langfristig fördern.

 

GRA/GMS, März 2017