Fokusbericht: Rechtsextremismus in der Schweiz

Zürich, 01. Januar 2016

Rechtsextremismus in der Schweiz

 

Nach dem Grossaufmarsch von Rechtsextremen aus ganz Europa vergangenen Oktober im Kanton St. Gallen fragten sich viele zu Recht, ob die Neonazi-Szene gerade neuen Auftrieb erhält. Doch Rechtsextremismus-Experte Fabian Eberhard gibt Entwarnung: Rechtsextreme Strukturen gewinnen in der Schweiz weder an Zulauf, noch sind sie für Junge attraktiver geworden.

 

Von Fabian Eberhard

 

Am Morgen danach bejubelten die Neonazis ihren Grossaufmarsch auf Facebook: «Ich bin stolz und ergriffen, dass diese Veranstaltung bei uns in der Schweiz stattgefunden hat», schrieb ein User. Ein anderer: «Endlich legal abhitlern.»

 

Wenige Stunden zuvor, am Abend des 15. Oktobers 2016, hatten sich im Kanton St. Gallen mehr als 5000 Rechtsextreme getroffen. In der Tennis- und Eventhalle von Unterwasser feierten sie ein «Rocktoberfest» mit europaweit bekannten Szene-Bands wie Stahlgewitter und Frontalkraft aus Deutschland sowie Amok aus dem Zürcher Oberland.

 

Die Extremisten hatten alle getäuscht. Die Gemeinde, die von einem Nachwuchskonzert mit Schweizer Bands ausging. Die Sicherheitsbehörden, die den Neonazi-Event in Süddeutschland vermuteten, und den Hallenvermieter, der mit nur 600 Besuchern rechnete.

 

Der Anlass alarmierte Sicherheitsbehörden und Politiker. Und er warf Fragen auf: Wird die Gefahr vom rechten Rand unterschätzt? Und sind wir in der Schweiz konfrontiert mit einer erstarkenden Szene? Klar ist: Das Konzert von Unterwasser ist eine neue Dimension. In den letzten Jahren gab es hierzulande keinen vergleichbaren Aufmarsch von Rechtsextremen. Einschlägige Konzerte und Kundgebungen vermochten selten mehr als hundert Teilnehmer zu mobilisieren.

 

Trotzdem darf der Erfolg der Veranstalter von Unterwasser nicht überinterpretiert werden. Ein Grossteil der Besucher reiste aus dem Ausland an. Rechtsextreme Strukturen gewinnen in der Schweiz weder an Zulauf, noch sind sie für Junge attraktiver geworden. Einzig im Tessin und in der Romandie ist es im Jahr 2016 einzelnen Gruppierungen gelungen, vereinzelt neue Mitglieder zu rekrutieren. Grundsätzlich hat sich das Personenpotenzial aber nicht verändert. Der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) schätzt die Anzahl gewaltbereiter Rechtsextremer auf rund 1000 Personen. Ein Viertel davon ist nicht nur gewaltbereit, sondern auch gewalttätig. Einzelne trainieren den Umgang mit Waffen. Laut NDB werden Schusswaffen gesammelt, gehandelt und «gegebenenfalls auch eingesetzt».

 

Die Mehrheit der Rechtsextremen in der Schweiz stammt aus ländlichen Gebieten, vorwiegend aus den Kantonen Genf, Bern, Zürich, St. Gallen und Aargau. Als schlagkräftigste Organisationen treten seit Jahren Blood & Honour und die Schweizer Hammerskins in Erscheinung. Auch die Hintermänner des Konzertes in Unterwasser bewegen sich in deren Umfeld. In beiden Gruppierungen dominieren allerdings Aktivisten mittleren Alters – der Nachwuchs fehlt praktisch gänzlich. Zudem schaffen sie es nicht, Anhänger überregional zu bündeln.

 

Obwohl die rechtsextreme Szene in der Schweiz nicht gewachsen ist, so fällt doch auf, dass die bestehenden Gruppierungen 2016 aktiver waren als in den Vorjahren und in der Öffentlichkeit gefestigter auftraten. Vor allem die schweizweit agierende, völkisch-nationalistische Partei National Orientierter Schweizer (PNOS) war in den Medien deutlich präsenter. Sie organisierte mehrere Treffen und Konzerte – wenn auch mit mässigem Erfolg. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die Veranstalter von Musikevents es momentan nicht schaffen, das subkulturell geprägte rechtsextremistische Spektrum über eine Teilnahme an Konzerten hinaus für weitergehende politische Aktivitäten zu motivieren. So misslangen im letzten Jahr mehrere Versuche, Aktivisten für Kundgebungen gegen den Islam zu mobilisieren. Auch der Aufbau von neuen PNOS-Sektionen in der Ostschweiz schlug grösstenteils fehl. Genauso wie ein heimliches Projekt von Neonazis aus mehreren Kantonen, die einen überregionalen «nationalen Widerstand» aufbauen wollten. Das Vorhaben kam nie über die Planungsphase hinaus.

 

Neben den militanten Hammerskins, dem Blood & Honour-Netzwerk und der mehrheitlich im Kanton Bern verankerten PNOS sind in der Deutschschweiz mehrere kleinere Splittergruppen aktiv. Diese bestehen aber nur aus einer Handvoll Aktivisten, sind geprägt durch eine hohe Fluktuation und zerfallen oft schnell wieder. Im März 2016 machte etwa die Nationale Aktionsfront mit Plakaten gegen eine geplante Asylunterkunft im Wallis auf sich aufmerksam. Oder die völkisch-heidnische Avalon-Gemeinschaft mit verschiedenen Vortragsveranstaltungen im kleinen Kreis. Die Mitglieder dieser Mini-Gruppen überschneiden sich teils mit denen anderer Organisationen.

 

Ein eher neues Phänomen ist, dass rechtsextreme Facebook-Gruppen teils regen Zuspruch erhalten. Ein Beispiel sind hier die Helvetic Brothers mit knapp 15 000 Likes. Deren Online-Hetze gegen Muslime spricht offenbar auch Leute aus der Mitte der Gesellschaft an. Allerdings wagen nur vereinzelte Anhänger solcher Gruppen auch den Schritt aus der virtuellen Welt. An ersten Treffen und Flugblattaktionen der Helvetic Brothers im 2016 nahmen nur wenige dutzend Leute teil.

 

Während islamistisch motivierte Terroranschläge und die angespannte Lage im Migrationsbereich rechtsextremen Kreisen im benachbarten Ausland Auftrieb verleihen, schaffen es Schweizer Gruppierungen nicht, davon zu profitieren. Zwar verlagern auch sie ihre politischen Inhalte zunehmend weg von traditionellen Themen wie Antisemitismus hin zur Islamophobie und Asylkritik, bleiben damit aber weitgehend erfolglos. Wohl auch deshalb, weil sich die SVP als grösste Schweizer Partei und gesellschaftlich akzeptierte Kraft seit Jahren nicht davor scheut, Versatzstücke der fremdenfeindlichen Rhetorik zu übernehmen und so auch potenzielle Extremisten am rechten Rand anzusprechen.

 

Militante Übergriffe von Rechtsextremen bleiben Einzelfälle. Trotzdem kann die rechte Gewalt punktuell gefährlich werden, Anschläge einzelner Neonazis sind immer möglich. Unterwasser hat zudem gezeigt, dass die Szene fähig ist, internationale Feiern an den Behörden vorbei zu organisieren. Wenn auch mit tatkräftiger Unterstützung aus dem Ausland.

 

Die Wirkung solcher Events sollte nicht unterschätzt werden. Zum einen fliesst der Erlös (in Unterwasser kamen über 150 000 Franken zusammen) in gewalttätige Strukturen im In- und Ausland. Zum anderen fühlen sich die Extremisten bei erfolgreicher Durchführung in ihrem Gedankengut bestärkt. Anlässe dieser Grösse, die ohne Konsequenzen bleiben, verleihen der Szene eine falsche Legitimität. Am Tag nach dem Konzert in Unterwasser schrieb ein Rechtsextremist auf einem Blog: «Was muss es für ein erhabenes Gefühl gewesen sein, zu sehen, wenn 5000 Kameraden den Liedtext von ‹Sieg› mit dem strammen Recken des Armes zu Ende führen.»

 

Fabian Eberhard, 33, ist Recherche-Journalist bei der «SonntagsZeitung» und profunder Kenner der rechtsextremen Szene in der Schweiz.

21. März 2017