Rassismus und Antisemitismus sind auch in der Schweiz ein Problem

Zürich, 01. Januar 2018

von Michael Bischof

Eine 49-jährige Brasilianerin wird am Limmatufer rassistisch angegangen und mit Tritten und Faustschlägen traktiert. Eine junge Frau – ebenfalls aus Brasilien – wird in einem Lebensmittelgeschäft Opfer von antischwarzem Rassismus. Beim Sihlcity entdeckt ein Fussgänger antisemitische Aufkleber. Das sind nur drei Beispiele aus der aktuellen Chronologie rassistischer Vorfälle der GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus. Gemeinsam ist den drei Vorfällen, dass sie in der Stadt Zürich stattgefunden haben. Dass in der Chronologie auch Vorfälle aus der Stadt Zürich aufgeführt sind, ist positiv. Aus der Feder eines städtischen Mitarbeiters klingt das zunächst paradox. Doch die der Stadt zurecht zugeschriebene Weltoffenheit beinhaltet eben auch offene Augen gegenüber gesellschaftlichen Realitäten wie Rassismus und Antisemitismus.

Mit der Anerkennung dieser Realitäten haben wir auch in Zürich oft Mühe. [1] Deshalb sind Initiativen wie jene der GRA wichtig, die in der Chronologie auch Zürcher Vorfälle beleuchtet. Zur Dialektik des Beleuchtens gehört allerdings, dass Licht immer auch Schatten wirft. So hat die Chronologie keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Verfassenden sind sich bewusst, dass viele Fälle nicht an die Öffentlichkeit gelangen und in der Chronologie ausgeblendet werden. Das macht die Chronologie nicht minder bedeutsam. Sie weist seit 1992 jährlich darauf hin, dass Rassismus und Antisemitismus auch in der Schweiz gesellschaftliche Probleme sind. Eine Einschätzung, die von einem Grossteil der Bevölkerung geteilt wird. So erachten gemäss der nationalen Erhebung «Zusammenleben in der Schweiz» zwei Drittel der hiesigen Bevölkerung Rassismus als ein wichtiges gesellschaftliches Problem. [2] Der Anteil derjenigen, die Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu einem der fünf wichtigsten Probleme der Schweiz zählen, ist laut dem nationalen Sorgenbarometer 2018 gegenüber dem Vorjahr bemerkenswert gestiegen. [3] Müssig ist der Hinweis, im Vergleich mit anderen Staaten seien die hiesigen Verhältnisse nicht dramatisch. Weder geht es um Dramatik noch darum, sich auf dem internationalen Parkett als Musterschüler zu profilieren. Und es geht nicht darum, sich mit dem Hinweis aus der Verantwortung zu stehlen, anderenorts seien die Verhältnisse weitaus dramatischer. Denn was im konkreten Einzelfall zählt, ist, dass Vorfälle und Betroffene die ihnen gebührende Beachtung finden. Zudem: Mit geringen Fallzahlen holt man sich in Fachkreisen keine Lorbeeren. Es gibt plausible Hinweise darauf, dass ein tiefes Diskriminierungsniveau vielmehr auf ein Manko an entsprechender Sensibilität hinweist. [4]

 

Weit verbreitete Diskriminierungserfahrungen sind ein Fakt

Diskussionen um Rassismus und Antisemitismus werden im beruflichen und privaten Alltag oft erstaunlich faktenfrei geführt. Wer Rassismus thematisiert, stösst auf Distanzierung und Abwehr [5] und muss sich anhören, er oder sie übertreibe und stütze sich letztlich auf subjektive Empfindungen. Zu bedenken ist allerdings, dass Rassismus immer auchein subjektives, emotionales Erlebnis ist. Ist nicht eines der Anliegen des Anti-Rassismus, Menschen in ihrer Verletzlichkeit und Empfindsamkeit zu achten und zu schützen? Zudem: Woher nehmen diejenigen, die eine zu hohe Empfindlichkeit reklamieren eigentlich ihre Gewissheit? Wäre nicht vielmehr ein Mangel an Feingefühl zu beklagen?

Einschätzungen und Erfahrungen von Betroffenen sind ernst zu nehmen. Gemäss einer breit angelegten Umfrage der Europäischen Grundrechtsagentur (FRA) stellen 90 % der befragten Jüdinnen und Juden eine Zunahme des Antisemitismus fest. Die Mehrheit der Befragten stellt zudem die Zunahme von Intoleranz gegenüber Musliminnen und Muslimen und generell eine Zunahme von Rassismus fest. Ein hoher Anteil der Befragten befürchtet, im kommenden Jahr selbst von einem antisemitischen Vorfall betroffen zu werden. [6] Dass es «Ängste der Bevölkerung» ernst zu nehmen gilt, ist in integrations- und migrationsskeptischen Debatten mittlerweile zum geflügelten Wort geworden. Auffallend ist dabei, dass damit selten die Angst vor Rassismus und Diskriminierung gemeint ist. Es ist allerdings ein Fakt: Ein Viertel der 17- bis 18-jährigen Jugendlichen mit mindestens einem aus einem afrikanischen Land stammenden Elternteil sind der Ansicht, wegen ihrer Herkunft in der Schweiz diskriminiert zu werden. [7] Migration ist dabei nur vordergründig der Anknüpfungspunkt für Ausgrenzung. In Wirklichkeit richtet sie sich – von einer Position mehrheitsgesellschaftlicher und unhinterfragter Normalitätsvorstellungen aus – gegen unterstelltes «Anderssein». Das hat Auswirkungen: Gemäss einer deutschen Erhebung fühlen sich Menschen, «deren Äusseres auf eine Zuwanderungsgeschichte hinweist, […] weitaus häufiger diskriminiert, als Zugewanderte, deren Erscheinungsbild sich nicht durch Merkmale wie Hautfarbe oder Kopftuch von der Mehrheitsbevölkerung abhebt.». [8]

Dem Rassismus ist der soziale Status seiner Opfer oft ziemlich egal, vielmehr kann er sich in seinen Erscheinungsformen sehr gut mit anderen Ausgrenzungsdimensionen wie sozialer Status oder etwa Geschlecht verbinden (Mehrfachdiskriminierung). Menschen, die an Rassismusberatungsstellen gelangen, sind häufiger von sozialer und wirtschaftlicher Benachteiligung betroffen. Für sie ist das Einfordern von Rechten besonders schwierig. [9] Die Herausforderungen bestehen hier auf der Seite des Anti-Rassismus. Nach wie vor meldet nur eine verschwindende Minderheit rassistische oder antisemitische Vorfälle. [10] Das Ansprechen von Rassismus darf weder Status- oder Ressourcenfrage sein noch ausschliesslich Aufgabe von Betroffenen. Staatliche Stellen stehen hier in der Verantwortung. Wie weit ihr Engagement gehen soll, ist allerdings strittig. Sicherlich zu kurz greift der Ansatz, die staatliche Rassismusbekämpfung einzig auf die Strafverfolgung zu beschränken. Rassistische Diskriminierung umfasst mehr als einen Verstoss gegen die Rassismusstrafnorm. Das Strafrecht ist letztlich nur Ultima Ratio gegen besonders schwerwiegende und öffentliche Verstösse. Es fokussiert sich zudem einseitig auf Täterinnen und Täter. Die Lebenswelten der Betroffen, in denen sie Rassismus erleben, werden vom eng definierten Tatbestand häufig ausgeblendet. Als Instrument gegen strukturelle Benachteiligungen auf dem Wohnungs- und Lehrstellenmarkt oder respektloses oder verletzendes Verhalten im (Behörden-) Alltag ist es gänzlich untauglich.

 

Individuelle Erlebnisse stärker gewichten

Geht es um Rassismus und Antisemitismus darf nicht vergessen werden, dass individuelle Erfahrungen und Betroffenheit immer über den Einzelfall hinausdeuten. Für Betroffene ist Diskriminierung ein individuelles und emotionales Erlebnisund zugleich eine Erfahrung, die sie mit anderen teilen. [11] Dass Menschen Diskriminierung unterschiedlich erleben, ändert nichts daran, dass sie eine gemeinsame Erfahrung teilen. Individuelles Erleben und gemeinsame Erfahrungen stehen durchaus in einer Wechselwirkung. Diskriminierungserfahrungen schwarzer Menschen vergegenwärtigen grauenhafte Traditionen wie Sklaverei, Kolonialismus und die fortwährende Geschichte des antischwarzen Rassismus. Sie müssen entsprechend vor dieser Folie bewertet werden. [12] Wenn sich – ebenfalls ein Fall aus der aktuellen Chronologie der GRA – Kinder und Männer der jüdisch-orthodoxen Gemeinschaft in Zürich-Wiedikon vor einem Verfolger fürchten, ist das vor dem Hintergrund antisemitischer Gewalttaten und Verbrechen zu beurteilen. Ungeachtet der Tatsache, ob der stark alkoholisierte Verfolger von antisemitischen Motiven getrieben oder «bloss betrunken» war. Für die Betroffenen bleibt es – «Alkohol hin oder her» – eine Erfahrung mit Bezug zu ihrem Jüdischsein. Diese Betroffenenperspektive sollte bei der Bewertung anerkannt und entsprechend gewichtet werden und nicht einzig die Frage, ob strafrechtlich relevante antisemitische Motive vorliegen. Kurzum: Rassistische oder antisemitische Diskriminierung ist im Einzelfall nicht nur ein individuelles Verhalten. Sie ist immer zugleich Ausdruck von bestehenden und historisch tradierten Verhältnissen. Das relativiert die individuellen Motive im Einzelfall. Und es zeigt, dass die Dokumentation von Einzelfällen wie in der vorliegenden Chronologie wichtige Hinweise auf Erscheinungsweisen von Rassismus und Antisemitismus liefern.

 

Kompetenzen statt Werturteile – richterlich geprüft 

Für die Bekämpfung von Rassismus und Antisemitismus hat das Gesagte durchaus Konsequenzen. Gefordert ist nicht nur Wissen über diskriminierendes Verhalten oder die Erforschung vorhandener rassistischer und antisemitischer Einstellungen. Gefordert ist insbesondere Wissen über tradierte und historisch gewachsene Mechanismen, die das rassistische Differenzieren in «wir» und «andere» hervorbringen und dieseVerhältnissedauerhaft bestärken. In der Schweizer Öffentlichkeit wurden gesellschaftliche Folgen von Kolonialismus, historischem Rassismus und Antisemitismus und deren aktuelle Formen lange ausgeklammert. [13] Entsprechendes Wissen ist für die konkrete Diskriminierungsbekämpfung aber unabdingbar. Es ist Grundlage, um problematische Wirkungen scheinbar neutraler Verhaltensweisen oder Regelungen zu erkennen. Ein mittlerweile in der Öffentlichkeit bekanntes Beispiel einer solchen Herangehensweise ist die Debatte um racial und ethnic profiling. Die Gründe für das in vielen europäischen Ländern feststellbare häufigere polizeiliche Kontrollieren gesellschaftlicher Minderheiten sind komplex. Sie lassen sich nicht auf rassistische Vorurteile von Polizistinnen und Polizistinnen reduzieren. Ein weiteres Beispiel ist der Einfluss öffentlicher Debatten. Sie prägen die Wahrnehmung exponierter Gruppen [14] und scheinen einen Einfluss darauf zu haben, gegen wen sich konkrete Diskriminierungshandlungen richten. [15] Wissen gefordert ist letztlich auch, wenn es darum geht, Aktualisierungen von tradierten rassistischen oder antisemitischen Stereotypen aufzuzeigen. Sensibilisierungsarbeit bedingt daher immer auch Wissensarbeit.

Dank der GRA wissen wir mittlerweile nun auch richterlich geprüft, dass die Anwendung dieses Wissens nicht blosses Werten, sondern vielmehr kompetentes und faktengestütztes Beurteilenist. Die Einordnung einer Aussage als «verbalen Rassismus» ist – wie GRA vs. Switzerland (ECHR 006/2018) zeigt – nicht zwingend ein blosses Werturteil. Gestützt auf entsprechendes Fachwissen hat eine solche Beurteilung vielmehr eine faktische Basis. Dass Organisationen wie die GRA Rassismus und Antisemitismus zum Thema machen, ist wichtig. Auch wenn alltäglicher Antisemitismus und Alltagsrassismus im Einzelfall selten ein schwerer und einklagbarer Verstoss gegen Grundrechte darstellt. Beide verletzen Menschen in ihrer Würde und zielen als beständige Nadelstiche letztlich auf den Kerngehalt unserer Grundrechte.

 

Michael Bischof ist stellvertretender Leiter der Integrationsförderung der Stadt Zürich.

 

 


Literaturhinweise

[1] Siehe dazu Stadt Zürich. 2018. Rassismusbericht 2017 [Link].

[2] Bundesamt für Statistik BFS. Erhebung Zusammenleben in der Schweiz (ZidS). 2016.

[3] Credit Suisse Sorgenbarometer 2018. S. 6.

[4] Siehe El-Mafaalani, Aladin. 2018. Das Integrationsparadox.

[5] Diese Distanzierung erfolgt dabei oft denselben Mustern. Siehe Messerschmidt, Astrid. 2010. Distanzierungsmuster. Vier Praktiken im Umgang mit Rassismus. In: Broden, Anne; Mecheril, Paul [Hrsg.]. 2010. Rassismus bildet. Bildungswissenschaftliche Beiträge zu Normalisierung und Subjektivierung in der Migrationsgesellschaft. Bielefeld.

[6] Siehe FRA 2018. Experiences and perceptions of antisemitism. Second survey on discrimination and hate crime against Jews in the EU.

[7]  Siehe Baier, Dirk et al. 2019. Integration von Jugendlichen mit Migrationshinterfgrund in der Schweiz. Zürich. S. 47.

[8] Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration. 2018. «Wo kommen Sie eigentlich ursprünglich her?». Diskriminierungserfahrungen und phänotypische Differenz in Deutschland. Köln. S. 4.

[9] Locher, Reto. 2017. Der Zugang zur Justiz in Diskriminierungsfällen. In: Kaufmann, Claudia; Hausammann, Christina [Hrsg.]. 2017. Zugang zum Recht. Vom Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsschutz. Basel. S. 55.

[10] Das zeigen etwa die EU-MIDIS-Umfragen der Europäischen Grundrechtsagentur. Siehe dazu auch Handfeld, Michael 2018. Sie melden es der Polizei nicht mehr. In FAZ online [Abfrage vom 27.01.2019, 09:58 Uhr].

[11] Siehe dazu Monique Eckmann, Monique. 2018. In: Stadt Zürich. 2018. Rassismus wirkt. Kommentare zum Rassismusbericht 2017. Tagungsdokumentation. Zürich. S. 17.

[12] Siehe. Hafner, Urs. 2018. Wir alle sind Rassisten. Es gibt keine Menschenrassen. Aber es gibt Rassismus. Und er ist überall, auch da, wo er eigentlich bekämpft wird. NZZ 19.9.2018.

[13] Symptomatisch hier etwa Bundespräsident Delamuraz Aussage in der Kontroverse rund um die Schweiz im Zweiten Weltkrieg, Auschwitz liege nicht in der Schweiz. Die Auseinandersetzung über die kolonialen Verstrickungen der Schweiz sind relativ jung. Siehe dazu Purtschert, Patricia et al. [Hrsg.] 2012. Postkoloniale Schweiz. Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien. Bielefeld.

[14] Zur «Flüchtlingsdebatte» siehe etwa Wehling, Elisabeth. 2016. Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht. Köln. Zur Berichterstattung über Muslime siehe Ettinger, Patrick. 2018. Qualität der Berichterstattung über Muslime in der Schweiz. Eine Studie im Auftrag der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus EKR. Bern.

[15] So stellt der DOSYRA-Bericht 2011 fest, «dass im Jahr 2010 ein beachtlicher Anteil der gemeldeten Fälle mit einer unterschwelligen, latenten, nicht näher definierten Ausländer- oder Fremdenfeindlichkeit, der Hautfarbe oder der muslimischen Religion in Zusammenhang standen, also mit Themen, welche in der schweizerischen Öffentlichkeit stark präsent waren.» Siehe Beratungsnetz für Rassismusopfer. 2011. Rassismusvorfälle in der Beratungspraxis. Januar bis Dezember 2010. Bern. S. 12.