Interview mit Dirk Baier über die Studie «Extremistische Einstellungen bei Schweizer Jugendlichen»

Zürich, 01. März 2018

Herr Baier, was für Konsequenzen würden Sie aus den Ergebnissen der Studie ziehen, oder anders gefragt: In welchem Bereich sehen Sie am ehesten Handlungsbedarf?

Eine zentrale Konsequenz der Studie ist meiner Ansicht nach zunächst die Sensibilisierung ganz verschiedener Akteure. Hierfür ein Beispiel: In der jüngeren Zeit scheint der Rechtsextremismus in der Schweiz auf dem Rückzug. Die Daten des Nachrichtendienstes des Bundes zu diesem Bereich gehen deutlich zurück. Wir konnten nun aber zeigen, dass rechtsextremes Denken in den Köpfen einiger Jugendlicher vorhanden ist. Ausländerfeindliche, rassistische oder antisemitische Einstellungen gibt es weiterhin in der Schweiz. Die Präventionsarbeit darf also auch in Zeiten rückläufiger Gewaltstatistiken keinesfalls nachlassen, so eine zentrale Folgerung. Mit dem Nationalen Aktionsplan hat die Schweiz ein Zeichen gesetzt, dass ihr die Präventionsarbeit weiterhin wichtig ist. Gleichwohl fokussiert dieser noch zu stark auf den islamistischen Extremismus. In Bezug auf die Politik ist daher zu formulieren, die verschiedenen Extremismen ernst zu nehmen und die Präventionsarbeit mit ausreichend Ressourcen zu unterstützen ist. Wichtig ist mir an dieser Stelle, darauf hinzuweisen, dass die Studie gleichzeitig nicht Anlass bietet, all das, was in der Vergangenheit getan wurde, in Frage zu stellen. Auch wenn extremistische Einstellungen durch die Befragung sichtbar gemacht wurden, hat sie doch ebenfalls gezeigt: Der grösste Anteil der jungen Menschen ist nicht einverstanden mit extremistischen Positionen und identifiziert sich stattdessen mit der Demokratie und zentralen demokratischen Prinzipien. Die Schulen spielen hierfür eine wichtige Rolle; die Demokratiebildung wird anscheinend gut umgesetzt. Eine Konsequenz, die ich zusätzlich aus den Ergebnissen ableiten würde, ist, die Prävention des Linksextremismus zu intensivieren. Bislang gibt es noch wenig Präventionskonzepte zu diesem Phänomenbereich, höchstwahrscheinlich auch deshalb, weil Uneinigkeit darüber herrscht, wo demokratische Ideen enden und linksextreme Positionen anfangen. Bei der Entwicklung solcher Konzepte sind dann verschiedene Akteure gefragt; hier sehe ich bspw. auch eine Verantwortung auf Seiten der Wissenschaft und Hochschulen.

 

Welche extremistischen Gruppierungen stellen aus Ihrer Sicht die grösste Problematik dar?

Das grösste Problem würde zweifellos von Gruppierungen ausgehen, die rücksichtslos das Leben von Menschen in Gefahr bringen bzw. die zur Verdeutlichung ihrer Ziele terroristische Anschläge durchführen und damit Menschen töten. In der Schweiz sehe ich derzeit nicht, dass es solche Gruppierungen gibt. Nicht auszuschliessen ist, dass Einzelpersonen eine solche Tat ausführen könnten – Deutschland hat wiederholt gezeigt, dass Fahrzeuge, also jedermann zugängliche Objekte, hierfür genutzt werden können und es keiner Waffen bedarf. Dass es aber Gruppen gibt, die so etwas planen, bezweifle ich. Wenn wir über die Problematik sprechen, reden wir also über eine andere Qualität der Gefahr. Linksextremistische Gruppierungen stellen derzeit wohl die aktivste Bewegung in der Schweiz dar, die sich aber meist in der Gewalt gegen Sachen niederschlägt. Im Einzelfall gibt es auch Übergriffe auf Polizistinnen und Polizisten, dies darf nicht ignoriert werden. Es gibt aber keine Strategie der Gewalt gegen Polizistinnen und Polizisten, also Anschläge auf Polizeiwachen o.ä. Auch wenn der Linksextremismus zu erwähnen ist, fällt es mir insgesamt schwer, eine Art Gefährlichkeits-Hitliste der extremistischen Gruppen zu erstellen. Unsere Studie hat zwar unterschiedlich hohe Zustimmungsquoten zu den einzelnen Extremismen gezeigt; das zentrale Ergebnis ist aus meiner Sicht aber: Alle extremistischen Positionen finden unter einer kleinen Gruppe an Jugendlichen Zustimmung. Es gibt also ein Potenzial für alle Extremismusformen. Die Frage ist nun. Wird dieses Potenzial aktiviert? Gibt es also Ereignisse, die junge Menschen dazu bringen, entsprechend ihren Einstellungen zu handeln? In Chemnitz in Deutschland haben wir gesehen, wie ein vermutlich durch einen Flüchtling verübtes Tötungsdelikt rechtsgesinnte Menschen dazu bringt, unschuldige Flüchtlinge körperlich anzugreifen. Auch für andere Extremismen sind solch auslösende Ereignisse denkbar. Insgesamt bedeutet dies: Alle Formen extremistischen Denkens stellen ein Problem dar, weil sie Freund-Feind-Schemata beinhalten, die dazu führen können, die als Feinde deklarierten Personen gewaltsam zu bekämpfen.

 

Wie erklären Sie sich das doch relativ tiefe Gewaltpotential von extremistischen Jugendlichen in der Schweiz im Vergleich zum Ausland? Was macht die Schweiz da allenfalls besser?

Bislang gibt es noch keine systematisch ländervergleichende Einstellungsforschung zum Extremismus, weshalb wir nicht mit Sicherheit sagen können, dass die Schweiz hier unterdurchschnittlich belastet wäre. Allerdings ist die Annahme, dass es so ist, durchaus legitim. Im Bereich der Jugendkriminalität und Jugendgewalt wissen wir bspw., dass die Schweiz recht gut dasteht. Und die Gründe hierfür dürften auch präventiv wirksam mit Blick auf den Extremismus sein. Zu nennen ist u.a., dass es gute Perspektiven für Jugendliche gibt, die Schule abzuschliessen und eine Berufsausbildung und später einen Job zu finden. Arme und benachteiligte Familien bleiben in der Schweiz auch nicht auf sich allein gestellt, so wie das in den USA der Fall ist; stattdessen gibt es verschiedene Unterstützungsmassnahmen wie die Sozialhilfe, die Familien finanziell abzusichern helfen. Die Schulen in der Schweiz sind mittlerweile für die Thematiken Gewalt und Extremismus sensibilisiert und führen verschiedene Präventionsprojekte durch – wobei es mit Blick auf den Linksextremismus noch Entwicklungspotenzial gibt. Auch die soziale Arbeit im Jugendbereich, so bspw. die aktive offene Jugendarbeit ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Nicht zu vergessen ist, dass in der eher klein- und mittelstädtisch geprägten Schweiz die sozialen Netzwerke der Menschen weniger anonym sind. Man kennt sich bspw. besser  in der Nachbarschaft, passt mehr aufeinander auf, und – so würden die Kriminologen sagen – kontrolliert sich in seinem Verhalten gegenseitig stärker. Betont werden sollte aber gleichfalls, dass in der Schweiz noch nicht alles zum Besten steht: So wissen wir, dass in der Kindererziehung häufiger als in anderen Ländern auf körperliche Gewalt zurückgegriffen wird; solche Erziehungsformen wirken sich auch auf Vorurteile und die Entwicklung von Feindbildern, die dem Extremismus zugrunde liegen, aus. Gegen Gewalt in der Erziehung könnte von politischer Seite daher noch energischer vorgegangen werden.

 

Herr Baier, wir danken Ihnen für Ihre Ausführungen.

 

ℹ Prof. Dirk Baier arbeitet am Institut für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) und ist Mitautor der Studie über extremistische Einstellungen bei Schweizer Jugendlichen.